Von Pandemien und mündlichen Verhandlungen per Videokonferenz
Seit dem Beschluss des Präsidenten des Europäischen Patentamts (EPA) im Frühjahr 2020 finden mündliche Verhandlungen im Prüfungsverfahren aufgrund der Pandemie per Videokonferenz statt. Die strikte Regelung, dass nur in ernsthaft begründeten Ausnahmefällen und auf Antrag des Patentanmelders die mündliche Verhandlung in den Räumlichkeiten des EPA durchgeführt werden könne – wie es bislang üblich war – hat in Fachkreisen zu scharfer Kritik angeregt. Zu Recht?
Der Beschluss des Präsidenten des EPA vom 1. April 2020 über als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlungen vor Prüfungsabteilungen wurde als Massnahme zur Eindämmung des Coronavirus getroffen. Allerdings wurden in Fachkreisen Bedenken geäussert, dass der Beschluss in Überschreitung der Kompetenzen des Präsidenten des EPA erlassen wurde und nicht im Einklang mit den anwendbaren Gesetzesbestimmungen und der langjährigen Praxis des EPA stehe.
Der Präsident des EPA stützt seinen Beschluss auf Art. 10 (1) (a) EPÜ, wonach dieser alle für die Tätigkeit des EPA zweckmässigen Massnahmen ergreifen darf. Dabei wurde ausser Acht gelassen, dass die ergriffene Massnahme zwar im Kampf gegen die Verbreitung des Coronavirus zweckmässig erscheinen kann, für die Durchführbarkeit der mündlichen Verhandlung jedoch nicht zwingend notwendig ist. Es stehen genügend alternative Massnahmen zur Verfügung, welche eine potentielle Ansteckung mit dem Coronavirus im Rahmen einer mündlichen Verhandlung ebenfalls auf ein Minimum reduzieren lassen.
Weiter ist zu berücksichtigen, dass in Art. 116 EPÜ ausdrücklich von einer mündlichen Verhandlung die Rede ist; die Möglichkeit der Durchführung per Videokonferenz ist im Gesetz selbst nicht vorgesehen. Die Beschwerdekammer hielt in T1012/03 sodann fest: «Therefore, the term "oral proceedings before the respective department" in Article 116 EPC not only concerns the function of the deciding division but also the location where oral proceedings are to take place» (T1012/03, Ziff. 38). Dies impliziere somit den Ort, an welchem diese Funktion ausgeübt werden müsse, nämlich an jenem Ort, an welchem sich das entsprechende Organ des EPA befinde (T1012/03, Ziff. 37). So entsprach es auch der bisherigen, etablierten Rechtspraxis des EPA, dass mündliche Verhandlungen grundsätzlich in dessen Räumlichkeiten durchzuführen waren und nur in Ausnahmefällen und auf Antrag des Patentanmelders eine Verhandlung per Videokonferenz erfolgen konnte. Demzufolge steht der Beschluss des Präsidenten vom 1. April 2020 nicht nur im Widerspruch zur anerkannten Praxis des EPA, vielmehr wurde dadurch eine derart hohe Hürde geschaffen, dass kaum je die Voraussetzungen für die Durchführung der mündlichen Verhandlung mit physischer Präsenz erfüllt sind.
Gemäss einem kürzlich ergangenen Entscheid des Schweizerischen Bundesgerichts könne eine Hauptverhandlung in einem Zivilprozess nicht gegen den Willen einer der Parteien per Videokonferenz erfolgen. Dies verletze die schweizerische Zivilprozessordnung und sei auch nicht gestützt auf die ausserordentliche Lage infolge der COVID-19-Pandemie zulässig. Sinn und Zweck der zivilprozessualen Bestimmungen zur Hauptverhandlung sei eine mündliche Verhandlung mit physischer Anwesenheit sämtlicher Beteiligten im Gerichtssaal. Das Gesetz setze für die Durchführung der Verhandlung in elektronischer Form grundsätzlich das Einverständnis der Parteien voraus (vgl. BGer 4A_180/2020 vom 6. Juli 2020).
Demzufolge muss man hinsichtlich des Beschlusses des Präsidenten des EPA vom 1. April 2020 zur Erkenntnis gelangen, dass dieser im Widerspruch zu Art. 116 EPÜ steht. Eine derart extensive Auslegung der Terminologie «mündliche Verhandlung» entspricht weder dem Sinn und Zweck des Gesetzes oder der bewährten Rechtspraxis noch kann diese durch die gegenwärtige Pandemie legitimiert werden. Unter Anwendung eines sehr strengen Massstabes könnte man gar argumentieren, der Beschluss führe unter Umständen zu einer Verletzung des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 113 EPÜ bzw. Art. 6 Ziff. 1 EMRK, wenn die mündliche Verhandlung gegen den Willen des Patentanmelders per Videokonferenz durchgeführt wird.
Nicht zu vergessen ist schliesslich die Problematik betreffend Datensicherheit sowie weitere technische Aspekte, welche im Extremfall zu einer Waffenungleichheit zwischen den einzelnen Patentanmeldern führen können.
Es bleibt abzuwarten, ob die kritischen Stimmen in Zukunft lauter werden. Nach der hier vertretenen Auffassung stellt der Beschluss des Präsidenten des EPA vom 1. April 2020 eine Kompetenzüberschreitung dar, weshalb die dadurch bewirkte Praxisänderung des EPA nicht rechtmässig sein kann. Es wäre insbesondere mit Blick auf die zukünftige Rechtssicherheit wünschenswert, dass die Beschwerdekammer darüber befindet, ob die Durchführung von mündlichen Verhandlungen per Videokonferenz gestützt auf Art. 116 EPÜ sowie den Beschluss des Präsidenten des EPA vom 1. April 2020 über als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlungen vor Prüfungsabteilungen ohne Einwilligung der am Verfahren Beteiligten zulässig ist.